
Die Jugendmusikbewegung und das Erbe von Gottfried Wolters
Die Schmochtitzer und Angather Musikwochen gehen letzten Endes auf die Jugendmusikbewegung zurück. Doch was hatte es mit dieser – heute vielfach aus dem Gedächtnis selbst sehr musikinteressierte Leute verdrängten – Bewegung auf sich? Und wer war jener Gottfried Wolters, der gewissermaßen ein Großvater von Schmochtitz ist?

Die Jugendmusikbewegung
Was war die Jugendmusikbewegung und welche Rolle spielten Musikwochen in ihr?
Die Jugendmusikbewegung entstand um 1920 aus der Jugendbewegung und war eine der prägenden Strömungen der Musikpädagogik des 20. Jahrhunderts. Sie hatte das Ziel, die Jugend und letztlich die gesamte Bevölkerung zum gemeinsamen Singen und Musizieren anzuregen. Diese Bewegung entwickelte sich in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg, als viele Menschen nach neuen Formen des Ausdrucks und der Gemeinschaft suchten. In diesem Kontext spielte die Musik eine zentrale Rolle, da sie als verbindendes Element und als Mittel zur kulturellen Erneuerung gesehen wurde.
Ein besonders wichtiges Format innerhalb der Jugendmusikbewegung waren die sogenannten Singwochen. Diese Veranstaltungen boten Raum für intensives gemeinschaftliches Musizieren und standen im Zeichen der Pflege des Volksliedes sowie der Entwicklung neuer musikalischer Praktiken. Die erste Singwoche fand 1923 in Finkenstein unter der Leitung von Walther Hensel statt. Sie gilt als Geburtsstunde dieses Formats und hatte weitreichenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Bewegung. Teilnehmer wie Karl Vötterle, der spätere Gründer des Bärenreiter-Verlags, wurden von dieser Erfahrung so stark geprägt, dass sie die Ideen der Singwochen weitertrugen und verbreiteten.
Die Singwochen waren geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Volkslied, das als authentisches musikalisches Ausdrucksmittel verstanden wurde. Dabei ging es nicht nur um die Bewahrung traditioneller Lieder, sondern ebenso um deren kreative Weiterentwicklung. Nicht zuletzt durch prägende Figuren wie Gottfried Wolters wurden später immer mehr auch europäische Volkslieder („Europa Cantat“ und “Das singende Jahr”) zum integralen Bestandteil des Kanons der Jugendmusikbewegten.
Immer stand das gemeinsame Singen im Mittelpunkt und sollte nicht nur musikalische Fertigkeiten fördern, sondern auch ein Gefühl der Gemeinschaft stiften. Die Veranstaltungen zogen Teilnehmer aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten an, darunter auch zahlreiche Lehrer und Pfarrer, welche die Ideen der Jugendmusikbewegung in ihre eigenen Kontexte trugen.
In den 1920er Jahren erlebte die Jugendmusikbewegung ihre Hochphase. Die Singwochen wurden zu einem festen Bestandteil des kulturellen Lebens und fanden nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, der Schweiz und anderen europäischen Ländern statt. Sie waren eng mit anderen Initiativen der Bewegung verknüpft, wie etwa der Gründung von Jugendmusikschulen oder dem Offenen Singen. Diese Formate sollten das Musizieren für alle zugänglich machen und einen Gegenentwurf zu den elitären Strukturen des bürgerlichen Konzertbetriebs bieten.
Die Bedeutung der Singwochen ging über die rein musikalische Ebene hinaus. Sie waren Ausdruck eines ganzheitlichen Lebensideals, das Körper, Geist und Gemeinschaft miteinander verbinden wollte. Viele Veranstaltungen fanden in naturnaher Umgebung statt, was den Geist der Jugendbewegung widerspiegelte, die eine Rückbesinnung auf einfache und ursprüngliche Lebensweisen propagierte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg griffen viele Musikerzieher auf die Erfahrungen und Konzepte der Singwochen zurück, um das Musikleben neu aufzubauen. Obwohl diese Geschichte inzwischen weithin vergessen wurde, zeigt sich in ihrer Nachwirkung auf Musikwochen und an Musikschulen die Kraft gemeinschaftlichen Musizierens und ein noch lange Zeit bleibender Einfluss der Jugendmusikbewegung auf die musikalische Kultur Deutschlands.

Die Geschichte hinter der Geschichte
Werner J. Patzelt über seine Prägung durch die Jugendmusikbewegung in seiner Jugend
Was genau eine „Geschichte hinter der Geschichte“ ist, zeigt sich oft erst im Nachhinein. So ging es auch mir, obwohl ich von Anfang an eine sehr klare Vorstellung davon hatte, was „Angath“ sein sollte. Das war jene 1978 erstmals stattfindende Tiroler Singwoche, aus der nach 25 Jahren „Schmochtitz“ hervorging. Doch erst als ich „Schmochtitz 2025“ vorzubereiten begann, eine der „Musik der Jugendmusikbewegung“ gewidmete Chorwoche, wurde mir die wirkliche „Geschichte hinter der Geschichte“ klar. Von der nämlich kannte ich zuvor bloß ihren unmittelbaren Anfang.
Im Grunde begann „Angath“ mit niemand anderem als Gottfried Wolters (1910-1989). Warum auch immer das Singen im Chor für weniger achtbar haltend als die Instrumentalmusik, kam ich 1969 zu Pfingsten auf dessen Chorwoche im Bayerischen Wald. Dort, in Hinterschmiding, erlebte ich vom ersten Abend an etwas für mich völlig Neues. Dafür fand ich noch nicht einmal treffende Worte. Heute klängen sie so: Singen als Erlebnis einer freudvoll erlebten Vergemeinschaftung unter weit über hundert Teilnehmern, Chorproben – mit Vorfreude beginnend und tagelang nachwirkend – als Erkundung zutiefst bewegender Sinnhorizonte, Chorleitung als Schaffung solcher Wirklichkeit, in der man sogar oberhalb des üblichen Könnens zu singen vermag. Das alles prägte mich Jahr für Jahr tiefer und weckte in mir eine Idee davon, was ich – falls das gelänge – eines Tages ansatzweise selbst sein und andere erleben lassen wollte. Heute macht es mich glücklich, dass Jahrzehnte später mir nicht wenige Altvordere sagten, in Schmochtitz fühlten sie sich ein wenig wie einst bei Gottfried Wolters.
Im gleichen Jahr war ich zur Sommerzeit im bayerischen Schullandheim Solla auf der Singwoche meines Musiklehrers. Die Chorarbeit ließ dort zwar nichts Außergewöhnliches erleben. Doch die Stimmung und die menschliche Dynamik unter den rund fünfzig Teilnehmern waren mitreißend. Da begann jeder Tag mit einem vierstimmigen Bachchoral; da wurde von fast allen sowohl gesungen als auch auf Instrumenten musiziert; da fanden spätnachmittags so gut wie alle beim Volkstanz zusammen; und da endeten, nach der letzte Chorprobe, die Abende oft in einem nahen Wäldchen bei einem kleinen Weiher unter sommerlichem Nachthimmel, und zwar mit leiser Musik, guten Gesprächen, auch dem stillen Genuss jugendlich-erotischer Erlebnisse. Nie verlor sich meine Empfindung, derlei müsse gerade solches Chorsingen umgeben, das vom Alltag bloßen Probens zu jenen tiefen Erfahrungen gelangt, die ich – als „reale Utopie“ – bei Gottfried Wolters kennengelernt habe.
Dank vieler glücklicher Umstände gestalteten sich „Angath“ und „Schmochtitz“ dann wirklich so ähnlich. Das alles wuchs gewiss nicht ohne Schwierigkeiten. Auch wäre ohne ähnlich gesinnte Mitstreiter wie Hubert Gößwein und erst Birgit Vogt, dann Annette Patzelt, nichts davon geworden. Zudem war Gottfried Wolters einzigartig, so dass sich da nichts kopieren, sondern nur der Geist seiner Arbeit weitertragen ließ.
Der aber war jener des „norddeutschen“ Zweigs der Jugendmusikbewegung, entwickelt in der „Musikantengilde“ um Fritz Jöde (1887-1970). Doch inzwischen weiß ich, dass auch die Art der deutsch-böhmischen und „süddeutschen“ Jugendmusikbewegung mich ganz fest gepackt hatte, als ich jahrelang in Solla war, das in der Tradition der „Singkreisbewegung“ stand. Dort wirkte vielfach jener Geist weiter, der einst von Walter Hensels (1887-1956) „Ursingwoche“ ausging, die im Sommer 1923 in Finkenstein bei Mährisch-Trübau stattgefunden hatte. Bald prägte er über viele Hunderte von Singwochen, die sich über ganz Deutschland ausbreiteten, ganze Generationen – darunter auch jene Leute, die Solla organisierten und leiteten.
Also ist die „Geschichte hinter der Geschichte“ das Fortleben des Erbes jener Jugendmusikbewegung, von der ich keinerlei Ahnung hatte, als ich als Gymnasiast ihrem Zauber verfiel. Ihr ging es um Chorsingen als Gemeinschaftsbildung, um Individualität im Ensemble dank polyphoner Musik, um das Weglassen von beruflichem Alltag und sozialer Stellung, um ein gutwilliges und freundschaftliches Miteinander für die Ausnahmezeit einer ganzen Woche, auch um Offenheit für Transzendenzerlebnisse aller Art. Genau das ist es, was so viele in Angath und Schmochtitz immer wieder erlebt haben. Wann immer – wer weiß – Fritz Jöde, Walter Hensel und Gottfried Wolters alledem zusehen, werden sie sich gewiss freuen.
Werner J. Patzelt, im März 2025